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Papierstabl & Kind


 

 

Der Zug kommt

 

Der Kalender zeigt die Zahl 23, darüber steht etwas kleiner geschrieben "Donnerstag". Die Jahreszeit in der diese Geschichte erzählt ist eingeklemmt zwischen Sommer und Winter. Einzelne Blätter an den Bäumen haben sich bereits auf den Weg zur Erde gemacht, haben die Kraft um sich an den Ästen zu halten demnach verloren. Ein Donnerstagmorgen so gegen zehn Uhr. Ein völlig normaler Tag also, wäre da der Ehemann diese Woche nicht zu Hause. Er ist jedoch anwesend, hat noch ein paar Tage Urlaub oder Überzeit auf seinem Konto, und die tut er nun abbauen. Man lebt in einer 4¼ Zimmer Wohnung mit Sicht auf den nahe gelegenen See. Die Familie hat eine Tochter, fragt man sie nach ihrem Alter antwortet sie mit "drei gsi".

Um diese Zeit ist man mit dem Haushalt vollauf beschäftigt. Der Staubsauger tönt aus dem Wohnzimmer. Die Tochter verweilt sich unterdessen mit einer Puppe und weiteren Spielutensilien in ihrem Zimmer. Das soeben erlebte Morgenessen muss auch mit der Babette und den Stofftieren nachgelebt werden. Den Mann sucht man vergebens. Er hat wie gesagt Urlaub und fummelt an irgend etwas in seinem Büro, welches einen steten Unordnungspegel aufweist der von der Ehefrau verständlicherweise nicht weiter angerührt wird.

Eine ruhige Morgenstimmung die jedoch jäh durch einen "Der Zug kommt" – Schrei, aus dem Büro schallend, unterbrochen wird. Und schon rast der Ehemann, wie von ausserirdischer Energie gejagt, aus seinem Büro heraus. Das Büro liegt am Ende des Korridors der die gesamte Wohnung in einen südlichen und einen nördlichen Teil auftrennt.

"Der Zug kommt" – und schon ist er auch wieder verschwunden, im Schlafzimmer welches von beiden Ehepartnern benützt wird. Ehefrau und Kind, obwohl in verschiedenen Räumen mit ihren "Arbeiten" beschäftigt, halten gleichzeitig inne und wenden ihre Häupter in Richtung Korridor, von wo der Ausspruch zu kommen schien.

Und wieder ertönt ein aufgeregtes, jedoch klares "Der Zug kommt", welches von einem erneuten Durchrasen des Ehemannes über die gesamte Korridorlänge vervollständigt wird. Er scheint nun wieder in seinem Büro zu sein, man hört da deutliches Schubladenschieben, Türschwenken, Regaldurchwühlen das mit unverständlichem Gemurmel vertont wird.

Die Ehefrau, vom sonderbaren Treiben des Mannes etwas verwirrt, führt geistesgegenwärtig die rechte Hand an ihren Kopf, welcher wiederum besorgt ist die momentan in grösserer Zahl auftretenden Geschichtsfalten richtig zu positionieren.

"Der Zug kommt" – wieder dieser Ausruf der von einer unbeschreiblichen Hektik des Ehemannes begleitet wird. "Wo ist das Geld" – eine neue Wortkombination die den Mund des Gatten verlässt – eine Wortkombination welche über sein Vorhaben weiter Aufschluss geben könnte.

Die Frau, noch immer völlig regungslos, macht sich erste ernste Gedanken über ihren Angetrauten - ob der wohl ein Bahnticket kaufen möchte, ist doch der nächste Bahnhof erst nach zurücklegen einer Entfernung von etwa 8 Kilometer verfügbar... . Oder ob der Mann seinen Urlaub nicht verkraftet, nach so vielen Überstunden könnte da vielleicht ein ernsteres Gebrechen im Entstehen sein. Sind wir gegen solche Krankheiten versichert, oder ist sowas nicht durch die Grundversicherung der Krankenkasse abgedeckt ? - Gedanken welche der Ehefrau zu Recht durch den Kopf gehen.

Und wieder erscheint der Mann mit dem schon obligatorischen "Der Zug kommt", um ein erneutes Mal im Schlafzimmer zu verschwinden. Kurze Zeit später verlässt er mit einem gestressten Gesichtsausdruck die Wohnung und rennt über das Treppenhaus hinunter zum Ausgang. Die in der Wohnung eingekehrte Ruhe täuscht, man macht sich nun umso mehr Gedanken über die Zukunft der Familie, auch ein Umtausch des männlichen Partners wird etwas entfernt ins Auge gefasst.

Die Tochter sitzt noch immer unbeweglich mit zur Türe gerichtetem Kopfe auf dem Boden, beginnt jedoch nun wieder regelmässig zu atmen. Sie, obwohl schon über drei Jahre auf dieser Erde weilend, hat ihren Papa noch nie in einer auch nur annähernd vergleichbaren Verfassung erlebt.

Man wendet sich also wieder seiner üblichen Arbeit zu und vergisst das Vorgefallene ganz automatisch.

In der Zwischenzeit schlägt die Kirchenuhr 12 mal und man setzt sich an den Mittagstisch. Hunger gilt um diese Zeit als völlig normales, menschliches Gefühl. Aber wo ist der Ehemann geblieben ? Er sitzt doch immer bereits am Tisch und blättert in seiner geliebten Zeitung, die sich jeweils selbstsicher auf seinem Teller breitzumachen beliebt. Heute jedoch sind weder vom Manne noch von der Zeitung auch nur kleinste Spurenelemente auszumachen. Man wird in wohl rufend zu Tische bitten müssen.

So sitzt er nun endlich auf seinem Platz, hat sonderbarerweise heute eine Kartonschachtel auf seinem Teller deponiert und wühlt beschäftigt darin. Als Ehefrau getraut man sich nicht gleich so direkt nach dem Grund zu erkunden. Man verteilt Messer und Gabel, wirft einen schnellen Blick auf das Adressetikett der Schachtel und liest als Absender klar und deutlich "Modellbahnversand Schwellenmann, Schotterallee 7 ....".

Hm... "Der Zug kommt" ist wohl dieses Postpaket welches heute in den Vormittagsstunden durch den Paketzustelldienst der Post angeliefert wurde.

Und dies ist mit absoluter Sicherheit durch die Grundversicherung der Krankenkasse nicht gedeckt.

© 10.1998
Papierstabl & Kind


 
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